Rubriken | Bildung | Wirtschaft und Arbeit | Bauen und Wohnen | Digitales, Datenschutz und Medien | Gesundheit und Pflege | Sicherheit und Justiz | Kunst und Kultur | Artikel-Typ

Inklusion - in Südtirol längst selbstverständlich

Die Journalistin Brigitte Johanna Henkel-Waidhofer begleitete u.a. für den Staatsanzeiger die Reise des Bildungsausschusses nach Südtirol.  In Südtirol sind die Sommerferien schon angebrochen, weshalb sich die Abgeordneten des Bildungsausschusses daheim in Stuttgart manchen Spott hatten anhören müssen - ausgerechnet jetzt wollten sie vor Ort Informationen zur gelebten Inklusion an Schulen sammeln? Tatsächlichaber hätte die Reise kaum ertragreicher sein können. Stuttgart/Bozen. Der Landtagspräsidentvon Bozen, Thomas Widmann von der Südtiroler Volkspartei, hatte noch die Gemeinsamkeiten mit Baden-Württemberg gepriesen, vor allem die Vorzüge föderaler Systeme. Wie ein roter Faden zog sich hingegen eine andere Erkenntnis durch diese vier Tage: Hier treffen zwei Welten aufeinander. Etwa wenn die Bildungswissenschaftlerin Brixen, – für die der hierzulande gern polemisch benutzte Begriff Einheitsschule ausschließlich positiv besetzt ist–, erläutert, guter Unterricht sei überhaupt nur binnendifferenzierter denkbar. Die Einsicht heißt: „Anders werden wir der Realität doch gar nicht gerecht.“ Wenn eine Abgeordnete der Grünen berichtet, dass Inklusion in den italienischenSchulen der Provinz noch besser funktioniert als in den deutschen, und den höheren Migranten-Anteil in Ersteren als Gelingensfaktor beschreibt. Wenn die zuständige Referentin in der Schulverwaltung vom gemeinsamen Unterricht auch bis zum Abitur erzählt –und davon, dass ein Kind mit Benachteiligung selbstverständlich auch dann versetzt wird, wenn es voraussichtlich nur in einzelnen Fächern das Klassenziel schaffen wird. Dass und wie Inklusion in Südtirol funktioniert, ist umfangreich beschrieben. Immerhin ist es Baden-Württemberg um nicht weniger als vier Jahrzehnte voraus. Die Mentalität, die sich entwickelt hat, die Selbstverständlichkeit im Alltag, wird im persönlichen Gespräch lebendig. 1974 hatte die Zentralregierung in Italien Inklusion verordnet. Sie hieß damals noch Integration, alle Sonderschulen wurden aufgelöst, das Zwei-Lehrer-System wurde eingeführt. Außerdem stehen Mitarbeiter fürIntegration bereit, es gibt Hilfe von der technischen Unterstützung bis zur Körperpflege. „Schule“, sagt Edith Brugger-Paggi von der Freien Universität Bozen, „hat jeden Schüler und jede Schülerin willkommen zu heißen.“ Es dürfe also quasi niemand abgelehnt werden, staunt einer der Gäste. „Quasi gibt es bei uns nicht“, antwortet die Inklusions-Expertin und gibt den deutschen Landespolitikern eine lobende Bitte mit auf die Heimreise: „Gehen Sie die ganze Sache mit Mut und ohne Hintertürchen an, Sie haben die besten Voraussetzungen.“ Die Bildungsfachleute von Grünen und SPD hören die vielen positiven Botschaften vom erfolgreichen Inklusionsmodell nur zu gern. Hätten sie allerdings die Finanzpolitiker an ihrer Seite, gäbe es wohl jede Menge Diskussion. Denn auf die mehrfach gestellten Fragennach den Kosten antworten die Gastgeber eher schwammig. Landtagspräsident Widmann lobt, dass die Provinz Südtirol keine Schulden hat, die Experten in der Verwaltung beklagen aber „die vielen offenen Baustellen“. Außerdem wird auch hier gespart: bei der Zuweisung der Integrationslehrkräfte oder der zusätzlichen Mitarbeiter „müssen die Schulen jonglieren“, berichtet Veronika Pfeifer von der Fachstelle Inklusion. Zugleich gebe es aber viele Freiheiten vor Ort, etwa die, Klassen zu teilen. Weitreichende Freiheiten räumt der Gesetzgeber auch Eltern ein. So gibt es beim Übergang aus der achtjährigen Einheitsschule keine Pflicht, der weiterführenden Schule die vorhandenen Diagnosen vorzulegen. Was zu überraschenden Ergebnissen führen kann, weil Jugendliche mit Beeinträchtigungen plötzlich auch ohne Unterstützung das Klassenziel erreichen. Pfeifer hält ihre Kritik an der Anspruchshaltung mancher Eltern nicht zurück und erzählt von einer Mutter, die den Sohn ein halbes Jahr vor Ablauf der allgemeinen Schulpflicht mit 18 in einem Gymnasium anmeldete – um ihn für weitere fünf Jahre versorgt zu wissen. Selbst solche Extrembeispiele stellen aber in der Öffentlichkeit nicht das gesamte System infrage. „Der Gesetzgeber schützt uns davor, solche Diskussionen zu führen“, sagt eine der Gesprächspartnerinnen. Nach 40 Jahren gibt es die allgemeine Erkenntnis, dass alle Kinder von Inklusion profitieren. „Absonderung könnte das nie leisten“, weiß Veronika Stirner von der Volkspartei, die selber auch als Lehrerin Erfahrungen gesammelt hat.  „Die Idee der inklusiven Beschulung ist überzeugend“, kann sich auch die ehemalige Sozialministerin Monika Stolz (CDU) den vielen – mit viel Überzeugungskraft – vorgetragenen Argumenten nicht entziehen. Am System des Parallelangebots der Sonderschulen wollen die Baden-Württemberger dennoch festhalten. „Kommen Sie wieder“, meint eine der Bildungswissenschaftlerinnen zum Abschied, „dann haben wir Sie endgültig auf unserer Seite.“ Weitere Informationen: In Baden-Württemberg liegt eine Novelle des Schulgesetzes vor, die mehr Inklusion ermöglichen wird. Was konkret geplant ist, erfahren Sie auf den Seiten des Landesportals