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Erprobungsschulen haben keine Probleme mit neuem Bildungsplan/dpa

Von Stefanie Järkel, dpa Marbach am Neckar. «Wie wäre es, wenn sich zwei Jungs küssen würden?», fragt Lehrer Felix Stadtfeld die Klasse. «Iiih», windet sich ein Junge. «Ich würde meine Schuhe ausziehen und sie schlagen.» Ein paar Mitschüler lachen. Stadtfeld ist Ethiklehrer am Friedrich-Schiller-Gymnasium in Marbach am Neckar (Kreis Ludwigsburg). Seine 30 Siebtklässler sind 12 und 13 Jahre alt. Einige haben eine klare Meinung zum Thema Homosexualität bei Männern: «nicht normal», «nicht natürlich».  «Schwul oder was?» heißt das Motto der Stunde. Es geht um Toleranz - und um ihre Grenzen. Stadtfeld unterrichtet nach dem Unterrichtskonzept der Zukunft. Das Friedrich-Schiller-Gymnasium ist eine von 95 Schulen, die den neuen Bildungsplan 2016 erproben. Darin geht es auch um die Umsetzung der Leitperspektive «Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt». In einem Arbeitspapier hatte sich das Kultusministerium ursprünglich auf das Thema sexuelle Vielfalt konzentriert. Nach scharfen Protesten aus konservativen Kreisen öffnete es den Begriff. Kritiker befürchten trotzdem eine Überforderung ihrer Kinder mit dem Thema Sexualität. «Wir haben uns bemüht, das Thema so zu verankern, dass die Dinge von fachlicher Seite gut aufgehoben sind und auch altersgemäß», sagt der zuständige Fachbereichsleiter am Landesinstitut für Schulentwicklung, Peter Grotz. «In jüngster Zeit haben wir eine ganze Reihe von Rückmeldungen von den Erprobungsschulen bekommen, die uns sagen, es ist okay so.» Stadtfeld, der die neuen Vorgaben auch für das Fach Biologie getestet hat, sagt, er sei mit der aktuellen Fassung und dem offener gefassten Begriff Vielfalt zufrieden. Das Marbacher Gymnasium mit seinen 2350 Schülern ist nicht nur die größte allgemeinbildende Schule in Baden-Württemberg, sondern testet auch den Bildungsplan für das Gymnasium am umfangreichsten - in 16 Fächern. Trotzdem gab es auch vonseiten der Elternschaft keine Kritik, heißt es vom Elternbeirat. Der Schulleiter und katholische Theologe Christof Martin sagt über die Debatte: «Ich fand es aus schulischer Sicht etwas überdreht.» Grotz vom Landesinstitut für Schulentwicklung betont, dass sich inhaltlich für die Lehrer nicht so viel ändere. Der neue Bildungsplan formuliere den aktuellen an manchen Stellen schlicht konkreter aus. So bleibe etwa der Sexualkundeunterricht im gleichen Umfang in der 7. Klasse erhalten. Stadtfeld hat auch bisher schon in seinem Unterricht über sexuelle Orientierung gesprochen. Neu für ihn ist nun, dass er den Bogen zur Frage der Akzeptanz und Toleranz schlägt. «Es geht darum, dass die jungen Menschen in einer pluralen Gesellschaft gut miteinander leben können», sagt er über das Unterrichtsziel. Der Lehrer fragt die Jungen, woher ihre Ablehnung kommt. Die Antworten: soziale Prägung, Geschlechterrollen, persönliche Einstellung. Er bespricht mit ihnen, was «normal» heißt: «wie ich», «wie die Mehrheit», «gewöhnlich», sagen sie. Stadtfeld kritisiert die Kinder nicht, er spricht auch nicht von «richtig» oder «falsch». Schüler der Schule sehen den Unterricht zum Thema sexuelle Vielfalt positiv. «Ich kann nicht nachvollziehen, dass sich jemand überfordert fühlen könnte», sagt die 17-jährige Hannah Huber. Fragen zur Sexualität würden sich in dem Alter automatisch ergeben. «Da bekomme ich die Antworten doch lieber von jemandem Kompetenten.» Alternativ würde sie bei Freunden nachfragen oder im Internet schauen. Und die Eltern? «Diese Aufklärungsgespräche will man mit den Eltern einfach überhaupt nicht führen», sagt ihre Mitschülerin Alina Troniarsky. Die Gegner kritisieren etwa, dass Schulen unterschiedliche sexuelle Orientierungen als gleichwertig darstellten. «Das berührt die Werteerziehung durch die Eltern und die Intimität der Kinder», sagt die Sprecherin der Initiative Familienschutz, Hedwig von Beverfoerde. «Wir haben eine ganz klare Präferenz für Ehe und Familie.» Außerdem könne man nicht über das Thema reden, ohne über Sexualpraktiken zu sprechen. Grotz sagt dagegen: «Sexualpraktiken kommen nicht vor.»  Stadtfeld will am Ende der Stunde wissen, warum für homosexuelle Jugendliche das Leben schwerer sein könnte. Die Antworten kommen schnell: «weil sie gemobbt werden», «weil sie geschlagen werden», «weil sie von der Familie ausgestoßen werden». Der Lehrer stellt dem vier Stufen der Toleranz gegenüber von Duldung über rechtliche Anerkennung bis zur Wertschätzung. In den nächsten Stunden will er über Religionen und Nationalitäten reden - über weitere Formen der Vielfalt.