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Eckpunkte der Grünen zur Inklusion: Gemeinsam lernen leben und arbeiten

Eckpunkte der Fraktion GRÜNE im Landtag von Baden-Württemberg Inklusion, also die volle gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, ist seit April 2009 eine gesetzliche Verpflichtung, die sich aus der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ergibt. Sie ist ein Menschen- und Bürger/innenrecht und umfasst ausdrücklich auch ein inklusives Schulsystem. Grün-Rot hat sich im Koalitionsvertrag zu einer engagierten Umsetzung der UN-Konvention bekannt und mit der Gemeinschaftsschule erstmals einen ausdrücklich inklusiven Schultypus gesetzlich verankert. Die praktische Umsetzung und erst recht der inklusive Umbau des Schulsystems erfordern sowohl eine hohe fachliche Qualität, als auch die Bereitschaft zum intensiven Dialog. Denn es bestehen bei Lehrenden wie bei Eltern erhebliche Ängste, ob Inklusion gelingen kann, ohne dass die Qualität des Bildungssystems insgesamt leidet. Das hängt auch damit zusammen, dass ein inklusives Schulsystem in Baden-Württemberg von Seiten des Landes vor Grün-Rot nie eine ernsthafte Zielsetzung war. Die wenigen echten Inklusionsversuche in der ersten Hälfte der 90er Jahre wurden beendet, obwohl sie anerkanntermaßen erfolgreich waren. Immerhin sind die Erfahrungen der so genannten Außenklassen und des ISEP (Integratives Schulentwicklungsprojekt) hilfreich. Denn die dort praktizierte Integration ist ein Zwischenschritt zur Inklusion. Wir begrüßen daher die vielen Eigeninitiativen im Land die aus Überzeugung inklusive Schulangebote umgesetzt haben, obwohl die Rahmenbedingungen dafür nicht einfach waren. Die Schulgesetzänderung zur inklusiven Beschulung, die 2015/16 in Kraft treten wird, muss ebenso wie die bildungspolitische Flankierung hohen Maßstäben genügen. Daran orientieren sich die bildungspolitischen Eckpunkte für Inklusion der Fraktion GRÜNE im Landtag von Baden-Württemberg: 1. Eltern von Kindern mit Behinderungen sollen sich für eine inklusive Beschulung entscheiden können, ebenso wie für den Unterricht an einer Sonderschule. Die staatliche Schulverwaltung gewährleistet das individuelle Wunsch- und Wahlrecht auf Inklusion. Dieses Recht beinhaltet den Besuch einer wohnortnahen Regelschule, nicht jedoch zwingend den Besuch einer ganz bestimmten Schule. Als wohnortnahe Regelschule kommt jede Schule in Betracht, an der der notwendige Assistenzbedarf gewährleistet wird. Wird ein Kind mit Behinderung nicht zielgleich im Hinblick auf den Schulabschluss unterrichtet, muss eine passende Regelschule zieldifferent unterrichten können. 2. Die Bedarfsermittlung soll in der Regie der staatlichen Schulverwaltung erfolgen. Dabei geht es nicht um eine defizitorientierte "Zuordnung", sondern um den individuellen Assistenzanspruch. Hierbei sind ggf. weitere Verfahren, etwa nach dem international anerkannten ICF-Standard sowie ärztliche Gutachten, einzubeziehen. 3. Das regionale Angebot sowie der gesamte Umbauprozess müssen im Rahmen einer regionalen Schulentwicklungsplanung gesteuert und wissenschaftlich begleitet werden. Nicht jedes Kind kann an jeder Schule unterrichtet werden, aber alle Schulen werden grundsätzlich inklusiv beschulen. Gruppenbezogene Lösungen und eine besondere Profilierung einzelner Schulen für bestimmte Behinderungen sind ebenso sinnvoll wie zum Beispiel die inklusive Weiterentwicklung der Außenklassen. 4. Eine neue, inklusiv ausgerichtete Lehrer/innenausbildung mit den Inhalten "individuelle Förderung" und "zieldifferenter Unterricht", ein qualifizierter Erfahrungsaustausch sowie gute Fortbildungsangebote für alle Regelschulpädagog/innen sind unverzichtbar. Auch von Sonderpädagog/innen ist zu erwarten, dass sie sich auf gelungene Beispiele für inklusive Beschulung einlassen, die es in Baden-Württemberg, in anderen Bundesländern und im europäischen Ausland in großer Vielfalt gibt. Die differenzierte Qualität der Sonderpädagogik sowie der Studiengang Sonderpädagogik bleiben erhalten und werden inklusiv ausgerichtet. 5. Der Umbauprozess wird insgesamt sicher mehr als ein Jahrzehnt benötigen. In den bisherigen Sonderschulen wird weiterhin, aber perspektivisch sehr viel weniger, Unterricht stattfinden. Bisherige Sonderschulen sind zu sonderpädagogischen Kompetenzzentren, in denen auch Kinder ohne Behinderungen mit unterrichtet werden können, weiterzuentwickeln. Das macht zum Beispiel Sinn, wenn sie über eine aufwendige therapeutische und pflegerische Ausstattung verfügen. Die Nikolauspflege Stuttgart geht diesen Weg und findet dabei großen Anklang. 6. Die erforderlichen Ressourcen für eine gute und gelingende Inklusion müssen bereitgestellt werden. Es muss Regeln für die Ausstattung mit sonderpädagogischen Fachkräften geben, um Kollegien interdisziplinär aufzustellen. Auch Heilpädagog/innen und gegebenenfalls Pflegekräfte gehören zu einer inklusiven Schule. Sonderpädagog/innen sind ein fester und respektierter Teil des Kollegiums, an dem sie unterrichten. Darüber hinaus müssen ihnen - schulübergreifend - Supervision und ein qualifizierter und regelmäßiger fachlicher Austausch innerhalb ihrer Disziplin ermöglicht werden. 7. Inklusion ist für die Fraktion GRÜNE im Landtag von Baden-Württemberg kein Sparmodell. Qualität, Verlässlichkeit, Transparenz sowie eine Ressourcengarantie, die bei den Schülerinnen und Schülern tatsächlich ankommt, stehen im Mittelpunkt. Neben den sonderpädagogischen Ressourcen müssen auch die Sachkostenzuschüsse des Landes derjenigen Schule zugute kommen, an der ein/e Schüler/in tatsächlich unterrichtet werden. Auf mittlere Sicht entstehen erhebliche Ressourcengewinne, wenn Doppelstrukturen abgebaut und eine Regionale Schulentwicklung auch für Sonder- und Förderschulstandorte umgesetzt wird. Langfristig, das zeigen internationale Erfahrungen, ist ein inklusives Schulsystem nicht zwingend erheblich teurer, da nicht vereinfachend der heutige Bedarf der bestehenden Doppelstrukturen - allgemein bildende Schulen und Förderschulen im Parallelbetrieb - zu dem erforderlichen Ressourcenbedarf für eine gute und gelingende Inklusion an den Regelschulen addiert werden darf. Im Vergleich zu den anderen Bundesländern haben wir in Baden-Württemberg die mit Abstand beste sonderpädagogische Ausstattung und zahlenmäßig das beste Lehrer-Schüler-Verhältnis. 8. Kurzfristig muss das Land für den inklusiven Umbau des Bildungswesens einen Mehrbedarf decken. Die zusätzlichen Ressourcen sind in ein nachvollziehbares inhaltliches, pädagogisches, organisatorisches und finanzpolitisches Konzept einzubinden, das in den Schulamtsbezirken einen echten Mehrwert bringt. Die Landtagsfraktion der GRÜNEN befürwortet daher die im ersten Schritt vom Kultusministerium zum Schuljahr 2014/15 angeforderten zusätzlichen 200 Stellen. Diese Stellen gehören aber zwingend in die Regie der Schulverwaltung, nicht in die Hoheit einzelner Sonderschulen. 9. Die nicht pädagogische Assistenz ist mit der kommunalen Seite, die dafür rechtlich zuständig ist, zu verhandeln. Der Eingliederungshilfebedarf soll über die Schulämter bewilligt werden, ohne bürokratische Mehrfachzuständigkeit. Wir begrüßen, dass der Städtetag dazu bereit ist. Vom Bund erwarten wir, dass er seine Versprechungen für eine stärkere Kofinanzierung der Inklusion endlich einhält und die Finanzmittel zügig bereitstellt. 10. Politik und auch die Interessenverbände der Lehrerinnen und Lehrer müssen Farbe bekennen: Inklusive Bildung ist keine lästige Pflicht, sondern kann ein Gewinn für alle werden. Nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern wir alle haben ein Recht auf die volle Vielfalt der menschlichen Erfahrung und damit auf ein inklusives Gemeinwesen.