Mut zur Ehrlichkeit: Warum Politik mehr Geradlinigkeit benötigt

Von mehr als 3000 Menschen ausgepfiffen zu werden, ist eine Erfahrung, die man nicht so schnell vergisst.

Kürzlich stand ich beim Frühlingsfest als Redner in einem Bierzelt. Meine Aufgabe: Unsere Position gegenüber tausenden Gastronomen zu vertreten. Zu so einem Auftritt gehört ein gewisser Mumm - gerade für einen Grünen. Fünf Minuten hatte jeder Redner, um seine Botschaft rüberzubringen. Die Frage aller Fragen: Bleiben die reduzierten sieben Prozent Mehrwertsteuer für Speisen in Restaurants bestehen?

Denn: Das können wir uns nicht leisten, das gibt unser Haushalt nicht her. Und das wissen eigentlich alle. Aber wer spricht es aus? Ich hätte die Situation mit falschen Hoffnungen retten können. Doch ich ging den direkten Weg: „Die Sieben wird es mit mir dauerhaft nicht geben!“ Das Echo: Minutenlange Pfiffe im Zelt. Ein Shitstorm mit aus dem Zusammenhang gerissenen Videos. Und reißerische Online-Schlagzeilen.

Tage später fragte ich mich: Hat Ehrlichkeit in der Politik ausgedient?

Manche behaupten, dass wir in einem postfaktischen Zeitalter leben. Ein Zeitalter, in dem Schein mehr wert ist als Sein. Man könnte auf Show und Effekte setzen. Das ist nicht mein Ding. Ich stehe für Verlässlichkeit, für Verantwortung - und dafür, niemandem etwas vorzumachen. Eine solche Haltung wird nicht immer mit Beachtung oder Applaus belohnt. Gerade dann, wenn der eigene Geldbeutel betroffen ist, scheint es so, dass viele lieber freundliche Worte als bittere Wahrheiten hören wollen. Ähnliches erleben wir gerade beim Klimaschutz.

Politikerinnen und Politiker stehen heute mehr denn je im Fokus. Bei vielen wirkt sich das auf ihr Verhalten aus: Die Möglichkeit zur Dauerbewertung im Netz - von Online-Umfragen auf Newsportalen bis zur Kommentarspalte im sozialen Netzwerk - stimuliert und simuliert die Bedeutung von Sympathie- und Umfragewerte als Machtfaktoren einer modernen Demokratie. Oder: Jeder Klick zählt. Wir leben in einer Zeit der Empörungskultur. Manch einer glaubt, seine politische Arbeit daran anpassen zu müssen und seine Position nach Trends zu wechseln. Das ist verlockend. Schließlich hat Instagram eine Story nach 24 Stunden wieder vergessen. In der Politik muss man nicht lange danach suchen: Beim Heizungsgesetz, beim Verbrenner-Aus, beim Streit um das Tempolimit. Ablehnung sorgt eher für schnellen öffentlichen Erfolg als ein konstruktiver Vorschlag.

Dieses Verhalten ist bekannt als „Future Discounting“ - die Zukunft zum Schleuderpreis verkaufen, trotz besseren Wissens. Auch vor der Landespolitik macht diese Strategie keinen Halt. Sei es bei utopischen Forderungen nach tausenden neuen Lehrerstellen oder dem Ruf nach Gießkannen-Subventionen für die Wirtschaft. Wie wirkungsvoll die Vorschläge sind? Oft steckt ein Gedanke dahinter: die platte Schlagzeile.

Wir können uns nicht jeden Wunsch erfüllen. Das geben die Finanzen nicht her. Zudem stehen wir vor großen Herausforderungen: Bildung, Klimaschutz, Forschung und Innovation. Nötig ist, das verfügbare Geld klug einzusetzen. Hier bin ich ehrlich: Nein zu sagen, auch wenn es wehtut, statt reflexhaft schnellen Erfolgen hinterherzuhechten. Langfristiger Erfolg durch ehrliche Politik hat für mich vor allem mit Verbesserungen für die nächste Generation zu tun. Mit 16 Jahren habe ich meine ersten politischen Erfolge im Jugendgemeinderat umsetzen können. Mein Anspruch ist noch immer derselbe: Ich möchte die Welt jeden Tag ein kleines bisschen besser machen.

Heute bin ich stolz darauf, was wir Grüne erreicht haben! Nehmen wir die Einführung des landesweiten Jugendtickets. Dafür habe ich schon vor 25 Jahren gekämpft. Oder: Zur nächsten Kommunal- und Landtagswahl sinkt das Wahlalter von 18 auf 16 Jahre. Ein Vorhaben, das mich schon als Jugendlicher bewegte. Mein Durchhaltevermögen zahlt sich also aus. Langfristig als Politiker mit Ehrlichkeit erfolgreich zu sein, bedeutet gleichzeitig, die eigenen Fehler einzugestehen und sich immer wieder zu hinterfragen. Im Nachhinein ärgere ich mich darüber, dass wir beim Ausbau Erneuerbarer Energien in den ersten Jahren unserer Regierungszeit nicht genügend aufs Tempo gedrückt haben.

Inzwischen hat Baden-Württemberg eines der ambitioniertesten Klimaschutzgesetze. Die Photovoltaik-Pflicht auf Dächern schlägt durch. Langsam dreht sich der Windkraftausbau. Trotzdem hätten wir hier schneller sein können. Oder, ganz anderes Thema: 2016 führten wir Gebühren für Studierende von außerhalb der EU ein. Das war damals umstritten. Der Fachkräftemangel, den wir heute in allen Bereichen sehen, hätte mich schon zu der Zeit zu einer anderen Einschätzung bringen können. Heute wissen wir: Die Studiengebühren sind für das Land ein Standortnachteil.

Zahlt es sich aus, ehrlich und authentisch zu bleiben und zu seiner Sache zu stehen? Mich haben all diese Erfahrungen in meinem Willen bestärkt: Gerade, wenn es ungemütlich wird, ist es wichtig, Haltung zu bewahren.

Egal ob Leute klatschen oder pfeifen.


Erschienen in den Badischen Neuesten Nachrichten am Samstag, den 11.06.2023