Soziales und Gesellschaft

Mehr Eigenständigkeit für Pflegekräfte, Physiotherapeuten und Hebammen

Das Land will 570 neue Studienplätze in den Bereichen Pflege, Physiotherapie und Hebammen schaffen und investiert dafür 10 Millionen Euro pro Jahr – warum? Bärbl Mielich: Der Wissenschaftsrat – das höchste Beratergremium der Bundes- und Landesregierungen – empfiehlt in der Pflege einen Anteil von 10 bis 20 Prozent akademisch gebildeter Fachkräfte. Davon sind wir noch weit entfernt. In Baden-Württemberg wollen wir allerdings eine Vorreiter-Rolle einnehmen auf dem Weg dorthin. Denn eine Aufwertung des Pflegebereiches ist dringend notwendig, damit unser Gesundheitssystem die kommenden Herausforderungen bewältigt. Welche sind das? Mielich: In vielen Kliniken liegt das Durchschnittsalter der PatientInnen inzwischen über 60 Jahre. Mit zunehmendem Alter steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen mit mehreren Beschwerden eingeliefert werden. Zum akuten Anlass - sagen wir mal einem Knochenbruch – kommt dann noch eine Demenz oder eine Altersdiabetes. In diesen Fällen muss umfassender behandelt werden, z.B. unter Berücksichtigung der psychischen Situation der Betroffenen. Dafür braucht es Pflegekräfte mit einem wissenschaftlichen Hintergrund, die selbst entscheiden dürfen, wie sie vorgehen. Bisher treffen allein die Ärzte Entscheidungen, die PflegerInnen dann ausführen. Das greift zu kurz: Mit akademisch ausgebildeten Fachkräften bringen wir die Pflege auf Augenhöhe mit der Medizin und sichern eine Behandlung in vernetzten Teams. Auch in Heimen wären Mitarbeiter mit akademischem Abschluss ein bedeutender Fortschritt:  Wenn etwa ein Bewohner/eine Bewohnerin nachts Schleim hustet und Atemnot bekommt, müssen die Pfleger den Arzt rufen oder bis zum nächsten Tag warten, bis sie absaugen dürfen. Denn entscheiden darf das heute nur ein Arzt. Akademisch ausgebildete Fachkräfte diagnostizieren eigenständig und helfen unmittelbar. Das ist ein Paradigmenwechsel. Wie sieht die Ausbildung konkret aus? Petra Häffner: Viele Universitäten und Hochschulen haben den Bedarf bereits erkannt und eigenständig Studiengänge entwickelt. Insofern starten wir nicht bei Null. Wir wollen die Angebote ausbauen und auf eine einheitliche Basis stellen. Wichtig ist uns dabei die Verzahnung der wissenschaftlichen mit der bewährten praktischen Ausbildung an Fachschulen. Denn wir wollen keine Verwalter im Büro, sondern Leute, die an den Patienten arbeiten – und dabei auf dem neuesten Stand der Forschung sind. Das ist ebenfalls eine Stoßrichtung des Ausbauprogramms. Wir wollen die Forschung intensivieren – etwa zu regionalen Versorgungskonzepten und zu den Themen Rehabilitations- und Präventionskonzepte  sowie bei zentraler und peripherer Bewegungsstörung. Diese Bereiche sind von der Medizin bisher vernachlässigt worden. Pflegekräfte und Therapeuten haben hier zwar gute Erfahrungswerte, aber eine wissenschaftlich fundierte Behandlung wäre für die Betroffenen ein Fortschritt. Könnte eine Akademisierung der Pflege zu einem noch größeren Fachkräfte-Mangel führen, weil die Einstiegshürden höher sind? Mielich: Wir sind überzeugt, dass das Gegenteil der Fall sein wird. Wir schaffen Aufstiegsmöglichkeiten, mehr Eigenständigkeit und erreichen eine Aufwertung des Berufsbildes. Für junge  Menschen, die diesen Karriereweg mangels Perspektiven heute womöglich nicht beschreiten, wird er auf einmal attraktiv. Außerdem geht es uns um eine Teil-Akademisierung. Die bewährten praktisch ausgebildeten Fachkräfte werden weiterhin in großer Zahl gebraucht werden. Bei den Physiotherapeuten und Hebammen heißt das Ziel hingegen, dass die Berufe vollständig auf ein wissenschaftliches Niveau gehen sollen. Warum? Häffner: Damit vollziehen wir nach, was in anderen europäischen Ländern Standard ist. Zur Zeit sind hier noch alle Therapieberufe weisungsgebunden, d.h.  die Ärzte bestimmen den Therapieansatz und nicht die TherapeutInnen.  In der Physiotherapie ist die Situation manchmal besonders absurd. Ich habe jahrelang in dem Beruf gearbeitet und hatte öfter das Problem, dass ich Patienten überwiesen bekam, denen die verschriebene Anwendung nicht  halfen. Um aber etwas anderes machen zu können, musste ich erst den Ärzten hinterher telefonieren wegen einer neuen Überweisung. Erst dann war es mir erlaubt,  die richtigen Maßnahmen mit den PatientInnen zu machen. Hochschulabsolventen können hingegen selbst diagnostizieren und den angezeigten Behandlungsansatz selbst bestimmen. PatientInnen können sich so ohne den Umweg über die Arztpraxis  direkt vom Physiotherapeuten behandeln lassen – und sparen damit Zeit und auch Kosten. Außerdem schließen wir mit Studienplätzen an staatlichen Einrichtungen eine Gerechtigkeitslücke. Ein Studium ist kostenfrei. Die bisher an privaten Instituten angesiedelte Physiotherapeuten-Ausbildung geht dagegen richtig ins Geld. Wir haben uns zudem vor den ersten Schritten in Richtung Akademisierung intensiv mit den Verbänden und KollegInnen aus der Praxis ausgetauscht. Ergebnis: Alle wollen eine solche Aufwertung ihres Berufsstandes.