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Die Flüchtlingssituation in der Türkei und ihr Bezug zu Baden-Württemberg. Drei Fragen an Muhterem Aras

Was kann man von der Türkei lernen im Umgang mit Flüchtlingen? Unsere Abgeordnete Muhterem Aras bereiste gemeinsam mit einer Landtagsdelegation das Land, in dem in einem einzigen Lager mehr syrische Flüchtlinge leben als in ganz Baden-Württemberg. Ihre Erkenntnis: In vielerlei Hinsicht ist die Erstaufnahme auch für uns vorbildhaft. Trotzdem lässt sich die Herausforderung der Flüchtlingsbewegungen nur gesamteuropäisch lösen. 1. Welche Bezüge zu Baden-Württemberg hast du bei der Reise durch die Türkei festgestellt? Im Südwesten werden für das Jahr 2015 über 33.000 Asylbewerber erwartet, bereits im ersten Quartal waren es rund 10.400 Menschen – und das Land ist jetzt schon mit ihrer Unterbringung und Versorgung stark gefordert. In der öffentlichen Meinung gibt es die Einschätzung, wir stünden vor den gleichen Problemen wie die Türkei, doch dort sprechen wir von ganz anderen Dimensionen. In Gaziantep in Südostanatolien leben 24.000 Menschen in einem einzigen Flüchtlingslager. Interessant sind für uns vor allem organisatorische Fragen: Wie geht die Stadtverwaltung mit den Neuankömmlingen um? Wie schafft man eine Infrastruktur? 2. Wie sieht es in den Flüchtlingslagern aus? Wie leben die Menschen dort? Das Lager, das wir in Gaziantep besucht haben, war wirklich gut organisiert. So sieht es sicherlich nicht überall aus. Dennoch funktioniert die Erstaufnahme der Flüchtlinge in der Türkei wesentlich besser als bei uns. Es beginnt damit, dass mittels einer Software vom Katastrophenschutz alle neu Eingetroffenen erfasst werden, mit Sprachkenntnissen, Berufsausbildung aber auch Eigenschaften wie ihrer Schuhgröße. So kann gewährleistet werden, dass die Hilfsmittel im Lager ankommen, die dort auch wirklich gebraucht werden – und zwar im richtigen Maß. Das Flüchtlingslager liegt platzbedingt außerhalb der Stadt und bildet doch ein eigenes Gemeinwesen. Es gibt Orte, an denen sich die Menschen begegnen können z.B. einen Markt, Läden oder auch Container, die als Gemeinschaftsräume dienen. Dort kann man Musik machen, Teppiche knüpfen oder Tischtennis spielen. Beeindruckend fand ich die Transparente an den Wänden auf denen die „Brüder und Schwestern“ aus dem Nachbarland willkommen geheißen werden. Die Versorgung mit Lebensmitteln funktioniert mit Wertmarken, die lediglich zum Einkaufen von Nahrung genutzt werden können. So verzichtet man auf Essenspakete oder Sachleistungen und unterstützt die einheimischen Kaufleute.  Ein ganz wichtiger Punkt ist die Sicherung des Unterrichts für die zahlreichen Kinder, die oft Schlimmes erlebt haben. Dabei nutzt man das berufliche Potenzial der Flüchtlinge selbst, unter denen sich auch viele Lehrer befinden. Sie bieten für 92 Prozent der Flüchtlingskinder in den türkischen Lagern eine Beschulung – und zwar in ihrer Sprache und nach syrischem Bildungsplan. Nur so bleibt den Heimatlosen langfristig eine Perspektive erhalten. 3. Wie präsent ist die Situation der Flüchtlinge und der Bevölkerung im Süd-Osten des Landes bei den Politikern in Istanbul und Ankara, die einige 100 km entfernt sind?  Auch dort leben viele Flüchtlinge, jedoch meist nicht in staatlich organisierten Lagern, wo sie mit dem Notwendigsten versorgt werden, sondern auf der Straße. Die Türkei hat das Problem lange Zeit unterschätzt und wollte auf internationale Hilfe verzichten. Inzwischen sieht man jedoch ein, dass die Notlage der Flüchtlinge keine temporäre Angelegenheit ist. Unsere Aufgabe ist es nun, eine europaweite Lösung zu finden. Wir dürfen Länder wie die Türkei, egal an welcher Außengrenze, nicht allein lassen. Dabei denke ich v.a. an den Aufbau von Infrastruktur und die Sicherung der Beschulung von Kindern. Gemeinsam können die EU-Länder die Kosten für die Lehrkräfte stemmen.