Rubriken | Europa und Internationales | Wirtschaft und Arbeit | Bauen und Wohnen | Digitales, Datenschutz und Medien | Gesundheit und Pflege | Sicherheit und Justiz | Kunst und Kultur | Artikel-Typ

Die Europäische Union bedeutet für uns Freiheit

©Christoph Schmidt/dpa

Nach dem Brexit-Referendum in Großbritannien stellt Andreas Schwarz klar, dass die Europäische Union aus der Sicht seiner Generation und ganz Baden-Württembergs für Zukunft steht. In seiner Erwiderung auf die Regierungserklärung von Ministerpräsident Winfried Kretschmann, warnt unser Fraktionsvorsitzender vor einer Rückkehr zur Kleinstaaterei in Europa, sieht aber auch Reformbedarf in der Europäischen Union. Hier können Sie das komplette Redemanuskript nachlesen:  Sehr geehrte Frau Präsidentin,
sehr geehrte Damen und Herren, das Referendum Großbritanniens vergangene Woche ist eine Zäsur für die Europäische Union. Zum ersten Mal seit ihrer Gründung wird sie nun kleiner und nicht größer. Das ist ein historischer Rückschlag. Das stimmt mich traurig und das macht mich betroffen. Wir sollten uns im Klaren sein: Das ist nicht das Ende der Europäischen Union. Aber es ist ein lautes, unüberhörbares Warnsignal - für uns alle. Überall in Europa sind Kräfte erstarkt, die zurück möchten zur Kleinstaaterei. Die sich abkapseln möchten, die die europäische Solidarität aufkündigen wollen und lieber ihr eigenes, nationales Süppchen kochen wollen. Einen rechtspopulistischen Dominoeffekt dürfen wir nicht zulassen. Schon gar nicht in Baden-Württemberg, wo wir nicht nur wirtschaftlich enorm von der EU profitieren - man könnte sagen, unser Wohlstand ist ein europäischer Erfolg - sondern auch in unserer eigenen Landesgeschichte die Früchte einer gelungenen Integration erkennen können. Baden-Württemberg als Union aus Württemberg-Baden, Baden und Württemberg-Hohenzollern ist eine Erfolgsgeschichte. Und auch die Europäische Union ist eine solche Erfolgsgeschichte der Integration und des Zusammenhalts. Es liegt an uns allen, dass dies auch in diesen schwierigen Zeiten so bleibt. Meine Damen und Herren, für meine Generation, für viele Menschen unter 40, haben in Großbritannien nicht für den Brexit gestimmt. Sie wollen weiterhin Teil der Europäischen Union bleiben. Denn die Europäische Union ist für uns nicht nur Grundlage unseres Wohlstandes und des anhaltenden Friedens auf diesem vorher so kriegerischen Kontinent. Sie ist für mich nicht nur baden-württembergische Staatsräson, wie der Ministerpräsident gerade sagte. Die EU ist für mich und meine Generation auch ein Lebensgefühl. Die Europäische Union ist ein Teil meiner Identität. Ich bin Europäer. Und so wie mir geht es vielen jungen Europäerinnen und Europäern – auch in Großbritannien. Wir fühlen uns als Europäerinnen und Europäer. Nicht ohne Grund haben im Vereinigten Königreich viele für den Verbleib in der Union gestimmt. Umso bitterer, umso enttäuschender ist für mich und für uns das Ergebnis des Referendums. Wir müssen ein solches demokratisches Votum akzeptieren, das ist selbstverständlich. Jetzt brauchen wir schnell Klarheit wie es weiter geht. Das Austrittsverfahren darf nicht zur Hängepartei werden, das sorgt nur für Verunsicherung. Wichtig ist jetzt, die Regeln für die künftige Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich zügig festzulegen. Der Ministerpräsident hat es dargelegt: 12 Milliarden Euro an Wirtschaftsgütern und Dienstleistungen tauschen wir in Baden-Württemberg mit dem Vereinigten Königreich aus. Wir haben schon allein deswegen ein großes Interesse, die Regeln für die zukünftige Zusammenarbeit mit Großbritannien zügig zu fixieren.   Aber wir müssen das Referendum auch als Auftrag begreifen. Das Votum der Menschen im Vereinigten Königreich zeigt, dass die EU für einige Menschen ihre Strahlkraft verloren hat. Es ist unser aller Aufgabe, ihr ihren Glanz wieder zu geben. Denn Europa – das sind wir! Wir sind Europa. Wir haben ein europäisches Lebensgefühl, eine europäische Identität – aber für uns ist Europa auch etwas ganz Konkretes. Für mich ist Europa Freiheit. Die Freiheit während des Studiums ohne Schwierigkeiten ein ERASMUS-Jahr in einem anderen EU-Land verbringen zu können – oder gleich einen kompletten Master dort zu studieren. Dieser Austausch fördert nicht nur den europäischen Gedanken, er ist auch für den Wissenschaftsstandort Baden-Württemberg Gold wert. Und inzwischen, und das ist für Baden-Württemberg natürlich nicht minder wichtig, gibt es einen solchen Austausch mit dem Programm ERASMUS+ auch außerhalb des Studiums, zum Beispiel im Rahmen einer handwerklichen Ausbildung. Das ist gelebte europäische Integration, und diese betrifft nicht nur Akademikerinnen und Akademiker, sondern von ihr profitieren in besonderem Maße auch der Mittelstand und das Handwerk. Go.for.europe ist zum Beispiel ein Gemeinschaftsprojekt der baden-württembergischen Wirtschaft – des Handwerkstags, der IHK, von Südwestmetall und der Landesregierung, das mit europäischen Mitteln Auslandspraktika innerhalb Europas fördert. Das nenne ich gelebten Zusammenhalt. Das nenne künftige Gestaltung der Europäischen Union. Und eine Europäische Union schafft auch Entwicklungsräume für junge Köpfe mit neuen Ideen. Das INTERREG-Programm, um nur eins von vielen Beispielen zu nennen, bringt grenzüberschreitend durch Technologiescouts und Innovationsmentoren kleine und mittlere Unternehmen mit innovativen Forscherinnen und Forschern zusammen. Das Programm hilft zudem die Ausbildungssysteme der Nachbarländer zu harmonisieren. So finden junge, gut ausgebildete Facharbeiterinnen und Facharbeiter leichter einen Arbeitsplatz – dies- oder jenseits der Grenze. Und wir in Baden-Württemberg kommen bei der Suche nach dringend benötigten Fachkräften voran. Fachkräftegewinnung ist einer der großen Vorteile, den uns die EU ganz konkret bringt. Und sie ist auch Ausdruck europäischer Solidarität. So leistet das Sonderprogramm MobiPro-EU einen Beitrag dazu, jungen Menschen aus Ländern mit hoher Jugendarbeitslosigkeit eine Perspektive zu geben. Sie können in Deutschland eine geförderte betriebliche Ausbildung absolvieren. Im Anschluss lindern sie entweder hier den Fachkräftemangel oder helfen dabei, die Wirtschaft in ihren Ländern wieder zu stärken. So nützt die EU beiden Seiten. Ob Oberrheinrat oder Donauraumstrategie – grenzüberschreitende europäische Zusammenarbeit hat in Baden-Württemberg Tradition. Sei es in der Kooperation der Polizei, der Feuerwehren. Sei es bei  grenzüberschreitende Naturschutzprojekte, bei der Verbesserung der Umweltbedingungen oder sei es bei Parlamentarierkonferenzen. Das ist gelebtes Europa! Gerade für unsere Natur ist die Europäische Union ein echter Gewinn. Über das europäische Schutzgebietsnetz Natura2000 schaffen wir zusammenhängende und vernetzte Habitate für Pflanzen und Tiere. Die biologische Vielfalt ist die Grundlage unseres Wohlstandes – die europäische Kooperation ist der Garant für eine gesunde Natur. Gleichzeitig wächst Europa auch durch Infrastrukturprogramme der EU zusammen. Als treibende Kraft für die Rheintalbahn unterstützt die EU eine zentrale europäische Verkehrsachse für Menschen und Güter – und zwar in einer Verbindung von Nordseehäfen über den Alpenkorridor bis hin zum Mittelmeer. So schaffen wir es in Baden-Würrtemberg mehr Güter auf die Schiene zu bringen. Meine Damen und Herren, sie sehen, für mich ist Europa nicht nur eine bloße Überschrift. Die Europäische Union bringt uns ganz konkrete Vorteile und wir in Baden-Württemberg profitieren ungemein von der europäischen Einigung. Und das soll auch so bleiben. Aber dafür muss die EU Ihre integrative Kraft wieder stärker herausstellen, sie muss wieder ein stärkerer Bezugspunkt werden – damit auch zukünftige Generationen sagen können: Ich bin Europäer! Ich bin Europäerin! Dafür muss die EU demokratischer und transparenter werden. Sie muss sich von unten entwickeln und nicht von oben. Sie muss im besten Sinne näher an den Menschen sein, die Menschen mitnehmen und ihnen Möglichkeiten zur Identifikation und zur Mitsprache bieten. Kurzum: Die EU muss wieder einen positive Geschichte zu erzählen haben. Das geht nicht ohne Reformen. Noch stärker als auf anderen Ebenen haben viele Menschen das Gefühl, dass sie die Politik in Brüssel nicht beeinflussen können. Deshalb dürfen die nötigen Reformen jetzt nicht in Hinterzimmern ausgehandelt werden. Das würde den Populisten nur Vorschub geben. Nein, die Europäische Union muss in einem breiten Beteiligungsprozess von unten weiterentwickelt werden. Die Bürgerinnen und Bürger müssen aktiv einbezogen werden. Schon vor 10 Jahren sprach Erwin Teufel im Rahmen des Verfassungskonvents davon, "Europa wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen". Das mahnen wir weiterhin an. Wir wollen eine EU der Bürgerinnen und der Bürger. Dazu brauchen wir einen echten Dialog, in dem sich die Bürgerinnen und Bürger, aber auch die Kommunen und die Regionalparlamente verstärkt wiederfinden können. Wir müssen uns am Prinzip der Subsidiarität orientieren. Wir haben starke Kommunen und müssen diese auch schützen. So ist die Daseinsvorsorge, also die Versorgung der Bürgerinnen und Bürger mit dem Notwendigsten vor Ort, seit je her eine Aufgabe unserer Kommunen. Und sie erledigen diese mit Bravour – in jeder Kommune ganz individuell, auf die passendste Art und Weise. Hier ist eine europäische Steuerung nicht nötig. Und, wie wir es im Falle der kommunalen Wasserversorgung erlebt haben, auch nicht erwünscht: Die europäische Zivilgesellschaft hat sich in der europäischen Bürgerinitiative über Landesgrenzen hinweg organisiert und eine mögliche Privatisierung der kommunalen Wasserversorgung verhindert. Das war ein mehr als deutliches Signal der europäischen Zivilgesellschaft, das wir sehr ernst nehmen sollten.    Und auch die Regionen - und damit insbesondere die Länderparlamente - müssen eine viel stärkere Rolle in der EU spielen. Die im Jahre 2012 hier an diesem Ort vom Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts  Prof. Dr. Voßkuhle angesprochene „Entparlamentarisierung“ der EU ist eine Entwicklung, die der Europaverdrossenheit Vorschub geleistet hat. Ein echtes Europa der Regionen hingegen kann den Menschen starke und räumlich greifbare Identifikationspunkte bieten, europäische Politik vermitteln und in lokale Besonderheiten übersetzen. Die Stärke Europas war immer seine Vielfalt - und diese Stärke können die Regionen voll ausspielen. Der richtige Ort dafür wäre eben dieses Parlament, in dem wir uns hier befinden, meine Damen und Herren. Und positive Beispiele für Zusammenarbeit auf Ebene der regionalen Parlamente gibt es bereits: Im Rahmen der Donauraumstrategie, die ich schon erwähnte und die hier im Ursprungsland der Donau eine große Bedeutung genießt, kooperieren wir mit 14 Ländern in und außerhalb der EU. Wir wollen aber auch das Europaparlament zu einem echten Bürgerinnen- und Bürgerparlament machen. Dafür muss es lebendiger werden. Uns schweben zum Beispiel Fragestunden vor, in denen sich die Kommission, ähnlich wie im britischen Unterhaus oder eben hier im Landtag von Baden-Württemberg, den Fragen der Abgeordneten stellen muss. Wir wollen ein echtes Initiativrecht für das EU-Parlament, mit dem es selbst Gesetze und Richtlinien auf den Weg bringen kann. Das Abstimmungsverhalten der Mitgliedsstaaten im Rat muss öffentlich nachvollziehbar sein. Wer solche einfache Wege der Transparenz nicht ausschöpft, der macht es den Populisten viel zu einfach. Wir wollen, dass Europa Motor ist für Innovation und Entwicklung. Dafür könnte ein neues, EU-weites Investitionsprogramm ein Weg sein. Denn die wirtschaftlichen Probleme einiger EU-Staaten gehen uns alle an. Nicht nur, weil die EU für die baden-württembergische Wirtschaft der mit Abstand größte Absatzmarkt ist. Sondern auch, weil Menschen, die sich abgehängt fühlen, besonders anfällig sind für die populistischen Angstmacher, die sich von Holland, Österreich, England und eben auch Deutschland anschicken, weiter Sorgen und Ängste zu schüren - aber kein bisschen zur Lösung realer Probleme beitragen. Dem müssen wir uns alle gemeinsam entschieden entgegenstellen. Denn die Europäische Union bringt uns Wohlstand - hier in Baden-Württemberg ganz direkt. Einheitliche Standards haben auch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer große Vorteile. Die Freizügigkeit ermöglicht es uns, Jobs auch in anderen Ländern anzunehmen - aber auch hier geeignete Fachkräfte anzuwerben. Bei der Anwerbung von Fachkräften durch unsere Unternehmen in Baden-Württemberg ist eine starke und funktionierende EU mit einem gemeinsamen Arbeitsmarkt nicht nur eine Hilfe, sie ist eine Notwendigkeit. Wir brauchen jetzt einen großen Schritt hinein in die Integration, nicht hinaus. Kein Weiter wie bisher, sondern die Fortentwicklung der europäischen Institutionen und eine Reform auf Grundlage einer klaren Analyse der Defizite. Denn eines steht fest: Die Europäische Union ist trotz großer Anstrengungen bei der Weiterentwicklung der Verträge von Maastricht, Amsterdam, Nizza bis Lissabon und auch im europäischen Verfassungskonvent an vielen Stellen verbesserungsbedürftig. Das gilt für die zu geringen Mitspracherechte des Europäischen Parlaments, der nationalen Parlamente und der Regionen. Aber auch für die intransparenten Entscheidungsprozesse bei der Verhandlung von Freihandelsabkommen wie TTIP und CETA. Es darf nicht sein, dass gewählte Abgeordnete sich Verhandlungsdokumente in einem Leseraum zwar anschauen dürfen, dann aber keine Notizen machen können – geschweige denn über das Gelesene in der Öffentlichkeit sprechen dürfen. So wirbt man nicht um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürgern. Erst recht wenn die Europäische Union das Freihandelsabkommen CETA ohne Beteiligung der nationalen Parlamente durchdrücken möchte. Das ist meinen Augen Amtshilfe für Populisten. Wir sollten hier unter Mitwirkung der Parlamente und mit Transparenz arbeiten. Als überzeugte Europäerinnen und Europäer müssen wir diese Verbesserungswürdigkeit der EU klar benennen und uns gemeinsam auf den Weg machen: Auf den Weg zu mehr Europa, auf den Weg zu einem effizienteren, demokratischeren und transparenteren Europa. Denn für uns Grüne ist die Europäische Union die Zukunft. Und das gilt auch weiterhin. Und lassen Sie mich zum Schluss eines noch in aller Deutlichkeit sagen: Wir jungen Leute wissen, ein Zurück in eine angeblich „gute, alte Zeit“, welches von einigen Brexit-Befürwortern versprochen wurde, wird und kann es nicht geben. Die Welt von vor 50 Jahren gibt es nicht mehr. Die Welt ist schneller und komplexer geworden – darüber werden keine neuen Schlagbäume hinwegtäuschen. Wir werden die Herausforderungen nur gemeinsam und zusammen meistern. Die Europäische Union ist dafür das richtige Vehikel. Sie ist nicht Teil des Problems, sie ist Teil der Lösung. - Es gilt das gesprochene Wort. -