Demokratie und Mitbestimmung

"Vor einem Jahr war ich noch im Gefängnis" - Mesale Tolu besucht Grüne

Was bedeutet es, als „Türkin“ in Deutschland zu leben - und als „Deutsche“ in der Türkei eingesperrt zu sein? Die Ulmer Journalistin Mesale Tolu blickt auf turbulente Monate zurück. Bei ihrem Besuch in der Grünen-Fraktion spricht sie über ihre Erfahrungen– über Razzien, Verhaftungen und der Verbindung zwischen Erdogan und der türkischen Community in Deutschland.

„Vor einem Jahr war ich noch im Gefängnis“, sagt sie. Ende April vergangenen Jahres hatte die Polizei die Wohnung der Journalistin gestürmt. Ein Spezialkommando nahm Tolu gewaltsam fest – unter den Augen ihres zweijährigen Sohnes. Der Vorwurf unter anderem: Mitgliedschaft in einer Terrororganisation. Mehrere Monate musste sie im Gefängnis verbringen. Tolu streitet die Vorwürfe bis heute ab – und kämpft nach ihrer Freilassung für einen Freispruch. Mitte Oktober wird Tolus Prozess fortgesetzt.

Zwar sei sie freigekommen, aber etliche Journalist*innen, Oppositionelle oder Studierende säßen weiterhin hinter Gittern – zudem auch mehrere beschuldigte Deutsche. „Unsere Freiheit ist zum Spielball zweier Länder geworden“, so Tolu. „Ich gehe nicht davon aus, dass die AKP-Regierung eine demokratische Wendung einläutet.“

Selbst wenn Erdogan irgendwann nicht mehr an der Macht sei, werde es dauern, bis die Türkei einen demokratischen Weg einschlagen könne. „Ich bin aber zuversichtlich, weil ich auf den Widerstand meiner Leute setze."

Die Fraktion sichert Tolu und ihrer Familie volle Unterstützung beim Kampf für Menschenrechte zu, betont Fraktionsvorsitzender Andreas Schwarz. Während ihrer Inhaftierung haben Tausende Menschen für ihre Freilassung in ihrer Heimatstadt Ulm demonstriert. Diese Solidarität für Tolu sei ein „Lichtschimmer“, der für den Einsatz für Pressefreiheit und Menschenrechte „Kraft und Hoffnung“ gebe.

Kritisch sieht sie die aktuelle Debatte um den umstrittenen Islamverband Ditib, den Einfluss Erdogans und die Isolation der türkischen Gemeinde in Deutschland. Sie warb in der aufgeheizten Diskussion dafür, die Perspektive zu wechseln.

„Erdogan hat gesehen, dass sich die dritte und vierte Generation der Menschen aus der Türkei hier noch nicht zu Hause fühlt“, sagt Tolu. „Er hat das ausgenutzt und diesen Menschen das Gefühl gegeben, dass sie sich aufgehoben fühlen.“ In Deutschland habe er die fehlende Unterstützung erkannt, Vereine und Moscheen gegründet und das Wahlrecht für in Deutschland lebende Türkinnen und Türken eingeführt.

„Für viele war das Gefühl da: Da ist jemand, der sich um uns kümmert“, sagt Tolu. „Wir haben nicht erst seit Erdogan innerhalb der türkischen Community eine gespaltene Gesellschaft. Aber seit Erdogan hat sie sich verstärkt.“

Bei der Frage nach nationaler Zugehörigkeit fordert sie mehr Sensibilität in der Sprache. „Ich fühle mich als Deutsche, ich esse wie eine Deutsche, ich bin hier aufgewachsen. Ausgrenzung fängt an, wenn man von einer Deutschen mit kurdischen Wuzeln spricht, obwohl sie sich als Deutsche sieht“, sagt Tolu. „Ich kann nichts dafür, dass meine Eltern in der Türkei aufgewachsen sind, ich fühle mich deutsch. Wenn man die Menschen als Deutsch-Türken bezeichnet, führt dies zu einem emotionalen Bruch, den man nicht so schnell wieder zusammenkriegt."