Verbindliche Grundschulempfehlung: Eindeutig die falsche Fährte

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Die FDP schreibt in ihrem Antrag von neueren Studien und Erkenntnissen, kann aber auch auf Nachfrage wie schon so oft nur eine einzige Quelle zitieren: die umstrittene Studie von Esser und Seuring. Diese behaupten ernsthaft, eine verbindliche Grundschulempfehlung würde mehr Bildungs- und Chancengerechtigkeit bringen.

Machen wir den Faktencheck: Wann war der PISA-Schock, auch in Baden-Württemberg? Die Antwort: Im Jahr 2002 – als die Schulwelt angeblich noch in Ordnung war und 10 Jahre vor dem Verzicht auf die verbindliche Grundschulempfehlung.

Jetzt frage ich Sie: Haben wir an unseren Schulen die gleiche Schüler:innenschaft wie vor 10 oder 20 Jahren? Die Antwort lautet Nein! Die Lebensumstände und Rahmenbedingungen junger Menschen haben sich seither stark verändert - in Baden-Württemberg übrigens mehr als in den meisten anderen Bundesländern.

In aktuellen Bildungsvergleichen liegen Bayern und Sachsen in der Bundesliga – aber nicht in der Champions League - relativ weit vorn. Bayern ist in der Sekundarstufe dreigliedrig, Sachsen zweigliedrig. Beide haben eine relativ verbindliche Grundschulempfehlung. Aber wie in fast allen Bundesländern ist dort die Tendenz durchweg negativ. Bundesländer mit einer relativ positiven Dynamik sind die früheren Kellerkinder Schleswig-Holstein und Hamburg, sie haben uns überholt. Hat eines dieser Länder eine verbindliche Grundschulempfehlung? Die Antwort ist: Nein. Plant irgendein weiteres Bundesland eine verbindliche Grundschulempfehlung? Die Antwort lautet ebenfalls nein, kein einziges. Und international? Viele Staaten liegen in den Bildungsvergleichen vor uns, vor jedem deutschen Bundesland. Glaubt einer dieser internationalen Champions an so etwas wie eine verbindliche Grundschulempfehlung? Die Antwort lautet nein. Und jetzt frage ich Sie von der FDP: Wollen Sie international wettbewerbsfähig sein und von der Champions League lernen? Es wirkt nicht so.

Ihre einzige Referenz, namentlich Herr Esser, will Eltern verbieten, Kinder mit einer Gymnasialempfehlung auf einer Realschule anzumelden. Das will die FDP mit ihrem Entwurf ebenfalls. Sie formulieren klar, dass die verbindliche Schulzuweisung nicht nur eine Überforderung, sondern auch eine Unterforderung der Schülerinnen und Schüler vermeiden soll. Würden sich Esser und die FDP durchsetzen, dürfte ein Viertel der Kinder, die heute mit einer Gymnasialempfehlung eine Realschule besuchen, dies künftig nicht mehr tun. Das wäre irrsinnig – und fatal! Der Anteil der Realschülerinnen und Realschüler, die letztlich die Hochschulreife erlangen, liegt über den 25% bei der Eingangsempfehlung. Ein weiteres Viertel der Kinder an den Realschulen bringt eine Empfehlung für die Haupt- bzw. Werkrealschule mit, diese Kinder dürfte laut FDP und Esser dort künftig nicht mehr beschult werden. Doch die meisten dieser jungen Menschen erarbeiten sich in kurzer Zeit das Realschulniveau. Haben deren Eltern eine Verfehlung begangen, als sie ihre Kinder entgegen der Empfehlung an einer Realschule angemeldet haben? Definitiv nein. Doch die FDP will es ihnen künftig genau das verbieten. Liebe FDP, diese Bevormundung ist anmaßend, unsinnig und illiberal.

Vermeintlich liberal ist die FDP nur an einer Stelle: Eltern sollen „auch die Gemeinschaftsschule wählen dürfen“. Das ist ausnahmsweise vernünftig, denn die Gemeinschaftsschule ist nicht nur eine Schule für alle. Sie ist die Schulart, bei der sich reale Bildungserfolg gegenüber der Grundschulempfehlung am stärksten verbessert.

In schöner Regelmäßigkeit betont der als Referenz herangezogene Professor Esser, dass er kein Bildungswissenschaftler, sondern Soziologe sei. Okay, immerhin, doch was sagt die echte Bildungswissenschaft? Professor Andreas Schleicher leitet bei der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, seit vielen Jahren die Pisa-Bildungsvergleichsstudien. Er stellt fest: integrative Bildungssysteme bringen bessere Leistungen. Die Champions League kennt keine „verbindliche Grundschulempfehlung“, und erfüllt drei Kriterien für erfolgreiche Bildung: Excellence, also hervorragende Leistungen. Equity, also messbare Chancengerechtigkeit und dabei Wellbeing, das Wohlbefinden und die psycho-soziale Gesundheit der Kinder und Jugendlichen. Wie dies im Alltag eines Bildungssystems aussieht, hat die Informationsreise des Bildungsausschusses nach Kanada eindrucksvoll gezeigt: mit zukunftsweisender Pädagogik und moderner Technik, wissenschaftlich begleitet und evidenzbasiert und mit breiter politischer Unterstützung – und somit ganz anders als der vorliegende FDP-Antrag.